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Titel
Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900


Autor(en)
Hagner, Michael
Erschienen
Berlin 2010: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Markus Rieger-Ladich, Departement Erziehungswissenschaften, Allgemeine Pädagogik, Universität Fribourg Email:

Michael Hagner, Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich und Autor instruktiver Arbeiten, die zwischen Wissenschaftsgeschichte, Historischer Epistemologie und Science Studies angesiedelt sind, hat sich in seiner jüngsten Studie eines Gewaltverbrechens angenommen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Wellen schlug und nicht allein die Öffentlichkeit erregte, sondern auch innerhalb der Wissenschaft große Resonanz erzeugte. Bei Recherchen zur Elitegehirnforschung stieß er, einer „intuitive[n] Neugierde“ (S. 251) folgend, auf eine Mappe von Zeitungsartikeln, welche die Aufschrift „Fall Dippold“ trug. Deren Lektüre war der Auslöser für eine Forschungsarbeit, die schließlich die Gestalt einer elegant geschriebenen Studie annahm und sich einer disziplinären Zuordnung souverän entzieht.

Worum geht es? Hagner arbeitet die Geschichte des Jurastudenten Andreas Dippold auf, der im Jahre 1901 an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin wechselt und eine Stelle als Hauslehrer annimmt, um im Anschluss seine Studien weiterführen zu können. Rudolf Koch, ein renommierter Bankier, fürchtet aufgrund der schulischen Leistungen der beiden Söhne Heinz und Joachim um deren berufliche Karrieren. Er vertraut sie dem ambitionierten Studenten an, der auch für Erziehungsfragen ein besonderes Interesse erkennen lässt, und ermutigt ihn bei seinem Bestreben, Berlin zu verlassen. Fern der Großstadt widmet sich Dippold der Erziehungsarbeit: Er überwacht die beiden Söhne und unterwirft sie einem strengen Kontrollregime. Als seine Maßnahmen, die von gezielter Ernährung über körperliche Ertüchtigung bis hin zu fachlichem Unterricht reichen, nicht zu den erwünschten Ergebnissen führen, intensiviert er seine Bemühungen und züchtigt sie immer häufiger. Zwischenzeitlich in ein fränkisches Dorf umgesiedelt, wo sie noch abgeschiedener leben, manipuliert er deren Briefwechsel mit den Eltern, indem er sie zu Geständnissen nötigt, in denen sie sich des exzessiven Onanierens bezichtigen. Er täuscht wiederholt Besucher, welche gebeten werden, den Vorwürfen nachzugehen, der Hauslehrer prügele die ihm anvertrauten Kinder über Gebühr. Am 10. März 1903 stirbt der vierzehnjährige Heinz infolge schwerer innerer Verletzungen. Der Schilderung dieser unheilvollen Verkettung von Ereignissen widmet Hagner das erste Kapitel, das den Titel trägt: „Ein Junge stirbt“ (S. 7-67).

So kenntnisreich Hagner die Rekonstruktion des Geschehenen kommentiert, so originell ist seine Auswertung des Materials. Dabei scheint es ratsam, ihm in seiner Selbstauskunft nicht uneingeschränkt zu folgen. Auch wenn er erklärt, im Zentrum seines Buches stünde die Frage, „wie die Verhaltensweisen der beteiligten Personen in Objekte des Wissens verwandelt worden sind und wie umgekehrt Wissen sich in die alltäglichen Verhaltensweisen einschreibt“ (S. 236), so ist dies nicht einmal die halbe Wahrheit. Hagner nimmt in seiner Studie unterschiedliche Rahmungen vor und legt auf diese Weise immer neue Dimensionen der Ereignisse um den prügelnden Hauslehrer offen, der schnell in das Fadenkreuz der Politik und Rechtswissenschaft, der Medizin und Sexualwissenschaft, der Pädagogik sowie der Medien geriet und nur wenige Monate nach dem Todesfall in einem aufsehenerregenden Prozess zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

In den folgenden Kapiteln wendet sich Hagner je spezifischen Facetten dieses Falles zu: So rekonstruiert er in „Ermittlungszeit“ (S. 68-128) die Überlagerung juristischer, medizinischer und pädagogischer Diskurse um die Jahrhundertwende und interpretiert im Kapitel „Der Prozess von Bayreuth“ (S. 129-150) das juristische Verfahren als ein soziales Ereignis, das Einblicke in das spannungsreiche Verhältnis von Rechtsprechung und Medizin zulässt. „Der Skandal und die Medien“ (S. 150-172) zeichnet die Erregungskurven der öffentlichen Debatten nach und legt die Dynamik der Aufschaukelung offen, während das Kapitel „Vom Nutzen und Nachteil der Humanwissenschaften“ (S. 173-238) die unterschiedlichen Bilder identifiziert, die von dem zentralen Akteur in der Öffentlichkeit, dem Rechtssystem sowie den beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen zirkulieren. Beschlossen wird die Studie von einem „Epilog“ (S. 239-250), in dem Hagner nicht allein den Spuren Dippolds nach dessen Entlassung folgt, sondern auch jenen des jüngeren der ihm anvertrauten Brüder.

Der besondere Reiz der Untersuchung liegt zweifellos darin, dass Hagner weder allein das Ziel einer möglichst detailgenauen, faktenreichen Nachzeichnung dieses spektakulären „Kriminalfalls“ verfolgt, noch eine normativ imprägnierte Rekonstruktion der Ereignisse, welche akribisch die einzelnen „Sündenfälle“ verzeichnet. Stattdessen flicht er in seine Darstellung immer wieder kleinere Exkurse ein, stellt wichtiges Hintergrundwissen zur Verfügung und erläutert Kontexte; er erhellt Querverbindungen, Konkurrenzbeziehungen und Konstellationen.1 Hagner begreift den Kriminalfall mithin als ein diskursives Ereignis, das einen Zugang zu jenen komplizierten Verschränkungen von Machtverhältnissen und Wissensordnungen, von Subjektivierungspraktiken und Geschlechterbeziehungen erlaubt, welche die Jahrhundertwende charakterisieren.

Dabei zeigt sich, dass die einzelnen Befunde immer wieder über den behandelten Fall hinausweisen. Liest man den „Hauslehrer“ als wissenschaftsgeschichtliche Studie, geraten die Auseinandersetzungen zwischen benachbarten Disziplinen in den Blick: Der angeklagte Hauslehrer wird dabei zu einer Spielmarke konkurrierender Diskurse. Er wird zum Prüfstein der Erklärungskraft unterschiedlicher Schulen der Sexualmedizin, Psychiatrie, Pädagogik und der Rechtswissenschaft. An seiner Person entzünden sich wissenschaftliche Kontroversen, die von dem Streben nach der Diskurshoheit sowie der Hoffnung befeuert werden, sich innerhalb des akademischen Feldes dauerhaft zu etablieren (vgl. S. 180ff.). Zugleich liefert Hagners Studie wichtige Beiträge zur Mediengeschichte: In dieser Perspektive zeigt sich, dass die medial verstärkte Skandalisierung von Wissensgebieten diesen nicht äußerlich bleibt. Gehen solche Fälle ins kulturelle Gedächtnis ein, prägen sie auch die epistemische Ordnung: „Relevant werden sie für die Wissensgeschichte durch ihre Fähigkeit, einen Diskurs in eine neue Richtung zu treiben und dadurch in einem ganz direkten Sinn neue Gegenstände des Wissens zu generieren.“ (S. 156f.) Weiterhin werden damit Fragen der Narration und der Adressierung thematisch: Indem Hagner die diskursiven Verschiebungen nachzeichnet, in deren Folge Dippold vom amoralischen „Monster“ zum „perversen Erwachsenen“ und schließlich zum krankhaften „Sadisten“ mutiert, weist er die identitätsstiftenden Effekte von Adressierungspraktiken nach (vgl. S. 97).

Nicht zuletzt die damit aufgerufenen Dispositive Kriminalität, Wahnsinn und Sexualität verweisen nun auf jenen Autor, mit dem Hagner gleichsam zwischen den Zeilen ein fortlaufendes Zwiegespräch führt. Auch wenn seine Studie Michel Foucaults Arbeiten in der Anlage und der methodischen Durchführung offensichtlich vieles verdankt, setzt er sich doch an einigen Stellen gezielt von ihm ab. So verweist er darauf, dass sich „Experten“ auch selbst ermächtigen können und ihren Einfluss nicht in jedem Fall einer Institution verdanken (vgl. S. 83), und wirft die Frage nach Verdrängungskämpfen zwischen unterschiedlichen sexuellen Dispositiven auf (vgl. S. 101). Interessanter ist die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Struktur und Ereignis. Diese „Gretchenfrage“, an deren Beantwortung sich Strukturalisten zuverlässig von Poststrukturalisten unterscheiden lassen 2, sucht er mit Blick auf seine empirischen Befunde zu lösen. So zeige die Entstehung des Dispositivs „Erzieher-Sadismus“, das ihm als „Gravitationszentrum“ pädagogischer, medizinischer, juristischer und moralischer Fragen gilt, dass hier kaum von einer „Multiplizierung der Diskurse“ gesprochen werden könne, wie dies Foucault unterstellt habe; vielmehr bestünde die „Lektion, die der Fall Dippold erteilt“ (S. 233), in der Beobachtung, Strukturen nicht länger als „träge“ Entitäten zu betrachten, sondern ihnen einen Akteursstatus zuzuerkennen, sie als formative Kraft zu betrachten.

Ein Manko von Hagners bestechender Studie besteht nun freilich darin, dass die damit aufgeworfenen Fragestellungen kaum einmal systematisch diskutiert werden. So flüssig das Buch geschrieben ist und so gekonnt die Aufbereitung des Materials, bleibt festzuhalten, dass wichtige Auseinandersetzungen nur en passant geführt werden. Die Fragen an Foucault sind brisant, sie verdienten der ausführlichen Diskussion – aber diese bleibt leider häufig aus. Meist in Form von Exkursen werden Anfragen formuliert, Grenzen der Diskursanalyse markiert, aber eine grundlegende, systematische Vermessung der Defizite ist kaum zu erkennen. Es mag sein, dass dies dem größeren Adressatenkreis geschuldet ist: „Der Hauslehrer“ ist ein glänzend geschriebener, funkelnder wissenschaftsgeschichtlicher Essay, der auf die Erörterung historiographischer Fragestellungen leider weitgehend verzichtet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005.
2 Judith Butler hat die beiden Positionen anhand einer Gegenüberstellung einschlägiger Texte von Pierre Bourdieu und Jacques Derrida überzeugend herausgearbeitet. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, S. 221ff.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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